Europawahl und Kommunikation
Herzlichen Glückwunsch zu 20 Jahre Cluetrain Manifest
-> liebe Politiker: lesen!
Das Video von Rezo hat die CDU erschüttert und die Vorsitzende der großen Volkspartei hat im Nachgang so ungeschickt reagiert, dass ein Kollateralschaden an dem Ansehen der Partei die Folge ist und die Zukunftsfrage zu ihrer Person wohl auch deutlich gestellt werden muss.
Dabei wäre es einfach gewesen, mit dieser berechtigten Kritik umzugehen und sich nicht hinter einer „Ach-die-Jugend!-Ignoranz“ zu verstecken. Warum schaffen es Politiker der großen Parteien nicht, die Jugend zu erreichen? Warum haben sie noch immer nicht begriffen, wie die Kommunikation im Netz 2.0 funktioniert?
Seit 2004 gibt es den Begriff vom Web 2.0 und der besagt nichts anderes, als dass der Austausch im Internet von Mensch zu Mensch möglich ist. Diese Technik ist also bereits seit über 16 Jahren etabliert, die Kommunikation hat sich damit maßgeblich verändert.
Noch früher, bereits 1999, hatten vier Wissenschaftler in den USA die Idee, 95 Thesen zu veröffentlichen, die die neue Sicht auf die Online-Kommunikation darstellt. Das Ganze haben sie im "Cluetrain Manifest" zusammengefasst. Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls und David Weinberger haben, nach Luthers Vorbild, 95 Thesen gewählt, so wichtig erschien ihnen diese neuen Kommunikations-Grundlagen. Und sie haben recht behalten. Heute ist das Cluetrain Manifest noch immer richtig und ihre visionären Thesen halten Stand. Die Politiker sollten es dringend lesen und verinnerlichen.
Ursprünglich richtete sich das Manifest an Unternehmen, die den digitalen Wandel noch nicht vollzogen hatten und die Märkte noch immer nach altem Vorbild wahrgenommen haben. In der aktuellen Kommunikationsfähigkeit der Politiker scheint es heute noch immer 1999 zu sein. Dabei ist die Sache gar nicht so schwierig, wenn man sich das Manifest vornimmt und auf die Politik überträgt.
Mit wem hat die Politik da nun zu tun?
Der digitale Wandel hat die Kommunikation stark beeinflusst. Die Diskussion über das Video von Rezo belegt das deutlich. Die Online-Welt der Digital Natives ist nicht mehr von gestern, das Neuland ist etabliert. Die Wähler unterhalten sich nicht länger nur noch am Stammtisch und in den abendlichen Vereinsheimen, die politischen Vorwahldiskussionen werden online geführt. Und das bitte im Sinne der Meinungsfreiheit.
Heute gibt es die Möglichkeit, sich über die Sozialen Medien auszutauschen und das nutzen viele. Die dabei entstehenden Filterblasen - die Unterhaltung gleichgesinnter - münden oft in hitzigen Debatten. Diese Debatten finden meist ohne die Einmischung der etablierten Parteien statt. Eine Präsenz der Politiker, die fähig sind, der Diskussion zu folgen ohne sie zu übernehmen, wäre enorm wichtig.
Die digital Natives sind in der Wählerschaft und auch in der Politik angekommen. Daher erreichen junge Parteien auch die jungen Wähler eher, sie kommunizieren in gleicher Weise. Aufgewachsen in einer Welt, in der jeder immer online sein kann, haben virtuelle und persönliche Kontakte ähnlichen Stellenwert. Diskussionen erstrecken sich nicht mehr nur bis zur Dorfgrenze, heute diskutiert ein Einwohner aus Hamburg direkt mit dem Politiker aus Landshut über seine politischen Ideen und Ansichten. Die Welt ist kleiner geworden, Meinungen können über weite Entfernungen problemlos ausgetauscht werden.
In der veränderten Kommunikationswelt verhalten sich Politiker der etablierten Parteien wie Schulkinder, die von der Welt da draußen noch nicht so recht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollen. Ihre Kommunikationsmuster sind überholt, ihre Berater anscheinend machtlos gegen die neue idealistische Front der Jungen. Es gilt zu verstehen, wie Kommunikation heute aussehen muss, um auch die Digitale Generation zu erreichen.
Was ist also so anders in der digitalen Kommunikation? Es ist nicht der Idealismus der Jugend, der gehört zu jeder jungen Generation, seit Menschengedenken. Bereits Sokrates sprach von der respektlosen Jugend. In den 80er Jahren kamen die Grünen auf. Bis sie Gehör in der großen Politik gefunden haben, verging noch viel Zeit. Heute ist das anders, es gibt andere Mechanismen. Es ist schlicht ein neuer Weg der Kommunikation, auf den die Politiker der großen Parteien noch keine Antwort haben. Hier verlieren sie den Bezug zur digitalen Gesellschaft.
Das Cluetrain Manifest
Genau hier kann uns das anfangs erwähnte Cluetrain Manifest in einer überarbeiteten Variante helfen.
Die Thesen 18 – 20 des Manifests zeigen auf, dass Parteien größere Fehler machen, wenn sie sich der aktuellen Kommunikation nicht anschließen.
- 18. Parteien, die nicht realisieren, daß ihre Wähler jetzt von Mensch zu Mensch vernetzt sind, deshalb immer intelligenter werden und sich in einem permanenten Gespräch befinden, verpassen ihre wichtigste Chance.
Was immer man hier als intelligent ansehen möchte, letztendlich ist es wichtig zu verstehen, dass Meinungsbildung so umfänglicher diskutiert wird, als in kleineren Gruppen
- 19. Parteien können zum ersten mal mit ihren Wählern direkt kommunizieren. Wenn sie bei diesen Gesprächen versagen, könnte das ihre letzte Chance gewesen sein.
Ungeschickter hätte es nicht laufen können. Hat die CDU erst einmal vollständig in Schockstarre verharrt, hat AKK im Anschluss wie ein Kleinkind reagiert, beleidigt, verletzt und von Staatsmännischer Größe, die man in ihrem Amt erwarten hätte können, keine Spur. Hier wäre es nun besser gewesen, weiter zu schweigen.
Es wäre geschickt gewesen, auf Rezos Video zunächst um Zeit zu bitten, dafür hat jeder Verständnis, es war sehr ausführlich und es enthielt viele Quellen, die es zu sichten galt. Auch die Medien haben erst nach 4 Tagen geantwortet. Nur nichts sagen, das geht gar nicht, so fühlt sich der Wähler, der das Video erstaunt angesehen hat und Rezo zugestimmt hat, nicht ernst genommen.
- 20. Die Parteien sollten sich das herzhafte Gelächter unter den Wählern genau anhören. Meist gilt es ihnen.
Genau das trifft wohl das Verhalten der Wähler bei der Stimmabgabe und in den anschließenden Diskussionen.
Der ständige Austausch zu allen Themen im Netz muss den Politikern bewußt sein. Die Filterblasen, die Unterhaltung Gleichgesinnter, münden oft in hitzigen Debatten. Diese Debatten finden meist ohne die Einmischung der Politiker statt. Eine Präsenz der Politiker, die fähig sind der Diskussion zu folgen, wäre enorm wichtig.
Lösungsansätze
Das Manifest bietet auch Lösungen, wie die Politik ihre Wähler erreichen kann:
- 21. Die Parteien müssen lockerer werden und sich selbst weniger ernst nehmen. Was sie brauchen, ist ein Sinn für Humor.
Bitte weiter lesen! Locker, nicht albern, der Wähler weiß Flachwitze von hintergründigem Humor zu unterscheiden!
- 22. Einen Sinn für Humor entwickeln bedeutet nicht, einige Witze auf die Parteien-Website zu stellen. Vielmehr geht es um echte Werte, mehr Bescheidenheit, eine klare Sprache und einen wirklich eigenen Standpunkt.
- 23. Parteien, die sich "positionieren" möchten, sollten dazu auch eine Position einnehmen. Im Idealfall sollte diese Position dann auch etwas mit dem zu tun haben, was den Wähler interessiert.
- 25. Die Parteien müssen heruntersteigen von ihren Elfenbeintürmen und mit den Menschen reden, mit denen sie Beziehungen aufbauen wollen.
Vorbei die Zeiten, in denen die Großen die Politik gemacht haben und die Wähler abgenickt haben, was ihnen vorgesetzt wurde. Der Wähler von heute will mitreden.
- 32. Intelligente Wähler werden Parteien finden, die ihre Sprache sprechen.
So ist es, die großen Parteien erfahren es gerade am eigenen Wählerverhalten.
- 34. Um mit menschlicher Stimme zu sprechen, müssen die Parteien die Anliegen und Besorgnisse ihrer Communities - der Gemeinschaft ihrer Wähler - teilen.
- 35. Dafür müssen sie aber zuerst einmal zu einer Gemeinschaft gehören.
Ein besonders wichtiger Punkt. Die Politiker der etablierten Parteien müssen näher an den Wähler ran, nicht an die Konzerne und Geldgeber.
Auch hier wendet sich das Manifest mit seinen Thesen an die Gemeinschaft. In der digitalen Welt zählt nicht mehr die Ansprache des Einzelnen, es geht es darum, die Gemeinschaft anzusprechen. Das Gemeinschaftsgefühl ist in der Welt der Digital Natives immens wichtig.
Es gilt allen Parteien
Je jünger die Partei in der Basis ist, je eher haben diese die Art der Kommunikation im Netz verinnerlicht. Die digital Natives sind in der Wählerschaft und auch in der Politik angekommen. Daher erreichen junge Parteien auch die jungen Wähler eher, sie kommunizieren gleich. Aufgewachsen in einer Welt in der jeder immer online ist, haben virtuelle und persönliche Kontakte ähnlichen Stellenwert.
Es gilt nicht mehr die klare Ansage der Politiker, es gilt der Diskurs. Die Menschen in Deutschland wollen mitreden. Auch hier hat das Cluetrain Manifest einige spannende Erkenntnisse bereits vor 20 Jahren veröffentlicht. Adaptiert auf die Politik klingt es wie folgt:
- 38. Menschliche Gemeinschaften entstehen aus Diskursen - aus menschlichen Gesprächen über menschliche Anliegen.
- 39. Die Gemeinschaft des Diskurses sind die Wähler.
"Näher am Wähler" nicht nur sagen, es auch leben wäre ein Anfang.
- 40. Parteien, die nicht zu einer diskursiven Gemeinschaft gehören, werden aussterben.
- 41. Die Parteien haben aus ihrer Sicherheit eine Religion gemacht. Aber das ist nur ein Ablenkungsmanöver. Die meisten Parteien schützen sich weniger vor ihren Mitbewerbern als vor ihren eigenen Wähler und ihren Parteimitgliedern.
Die Shell Jugendstudie zeigt dazu den Umschwung von unidiologischen Jahrgängen 1977 – 1994 zur jetzigen Generation 20+, die wesentlich ideologischer ist und nach verlässlichen Wertesystemen sucht.
In dieser These wird deutlich, wie sehr die Politik mit Machtansprüchen der Einzelnen zu kämpfen hat. Es geht nicht länger um das Interesse Einzelner, die Gesellschaft ist deutlich idealistischer geworden und verlangt das Gleiche von ihren Politikern.
Was der digitale Mensch will
Das Manifest vermittelt auch ganz klar, was die Wähler wollen. Die Kommunikation beruht im digitalen Zeitalter auf einem Miteinander, nicht auf einem einseitigen Monolog. Der Wähler will einbezogen werden, nicht Meinungen übergestülpt bekommen.
Das Clutrain Manifest wird an dieser Stelle sehr klar und forsch:
- 63. Lüften wir den Schleier und reden über uns selbst: Wir sind diese Wähler. Wir wollen mit Euch sprechen.
- 64. Wir wollen Zugang zu euren Parteiinformationen, zu euren Plänen und Strategien, euren besten Ideen und eurem wirklichen Wissen. Wir werden uns nicht zufriedengeben mit der Vierfarb-Broschüre, mit WebSites aus einer Zuckergußfassade, aber ohne Inhalte.
- 65. Wir sind auch die Wähler, die eure Parteien zum Laufen bringen. Wir wollen mit unseren Politikern direkt sprechen, in unserer Sprache und nicht in den Plattitüden einer Gesprächsanweisung.
- 66. Als Wähler und als Parteimitglieder fühlen wir uns zu Tode gelangweilt von den Informationen, die wir von Euch nur per Fernbedienung bekommen. Wozu brauchen wir gesichtslose Jahresberichte aus dritter Hand, um uns persönlich zu begegnen?
- 67. Als Wähler und Parteimitglieder fragen wir uns, warum Ihr uns nicht zuhört. Ihr scheint eine andere Sprache zu sprechen.
- 68. Der aufgeblasene, selbstherrliche Jargon, mit dem Ihr um euch werft - in der Presse und auf euren Parteisitzungen - was hat das mit uns zu tun?
- 69. Vielleicht beeindruckt Ihr dadurch Eure Investoren. Vielleicht beeindruckt Ihr die Politiker anderer Parteien und befreundete Staatsregierungen. Uns beeindruckt Ihr nicht.
- 70. Wenn Ihr uns nicht beeindruckt, werden auch Eure Parteifreunde baden gehen. Verstehen sie das nicht? Wenn sie es verstehen würden, dann würden sie Euch nicht so reden lassen.
- 71. Eure überholten Vorstellungen von „dem Wähler“ haben eure Sicht vernebelt. Wir erkennen uns in Euren Entwürfen der Wirklichkeit nicht wieder - vielleicht, weil wir wissen, daß wir schon ganz woanders sind.
Dieser klaren Ansage ist nichts hinzuzufügen, Rezo ist ein Paradebeispiel für genau diese Aussagen.
Weckruf
Zu guter letzt wird klar, dass die Möglichkeiten im Netz den Wählern wesentlich zur Vernetzung und gemeinsamer Ausrichtung beitragen als es viele Parteien bisher erkannt haben. Das Selbstbewusstsein der neuen Kommunikationspartner ist nicht zu unterschätzen, die Möglichkeit zur Basisdemokratie wird wahrgenommen.
- 88. Wir haben Besseres zu tun, als uns darüber Sorgen zu machen, ob Ihr Euren Wandel noch rechtzeitig in den Griff bekommt, um mit uns ins Geschäft zu kommen. Das Geschäft ist nur ein Teil unseres Lebens. Euch scheint es voll und ganz zu vereinnahmen. Denkt mal darüber nach: Wer braucht hier eigentlich wen?
- 89. Wir haben echte Macht - und das wissen wir auch. Wenn Ihr das Licht am Ende des Tunnels nicht erkennen könnt, dann wird sich schon jemand anderes finden, der besser zuhört, interessanter ist und mit dem es mehr Spaß macht, in Diskussion zu treten.
- 90. Selbst im schlechtesten Fall ist unser neuentdecktes Gespräch wesentlich interessanter als jede Eurer Sitzungen, viel unterhaltsamer als eine Komödie im Fernsehen und mit Abstand lebensechter als jede Eurer Parteien-WebSites, denen wir bisher über den Weg gelaufen sind.
- 91. Unser Fahneneid gilt uns selbst - unseren Freunden, unseren neuen Verbündeten, selbst unseren Sparring-Partnern. Parteien, die an dieser Welt nicht teilnehmen, werden auch keine Zukunft haben.
- 93. Wir existieren sowohl innerhalb der Parteien, als auch außerhalb von ihnen. Die Grenzen, die unsere Gespräche trennen, erscheinen uns wie die Berliner Mauer. In Wirklichkeit sind sie jedoch lediglich Ärgernisse. Wir wissen, daß sie fallen.Tatsächlich arbeiten wir von beiden Seiten der Mauern daran, daß sie fallen.
- 94. Den traditionellen Parteien mögen die vernetzten Gespräche verworren und verwirrend erscheinen. Aber wir organisieren uns schneller als sie es tun. Wir haben die besseren Werkzeuge, mehr neue Ideen und keine Regeln, die uns aufhalten.
Und zum Schluss die klare Ansage, die es nicht zu verpassen gilt:
- 95. Wir wachen auf und verbinden uns miteinander. Wir beobachten. Aber wir werden nicht warten.
Das Clutrain Manifest ist 20 Jahre alt. Damals haben die Unternehmen einen Weckruf erhalten. Heute ist es die Politik, die aufwachen darf.
Wenn sich die Politiker des Landes aufmachen und die Kommunikation im digitalen Zeitalter neu erlernen, dann haben sie vielleicht noch die Chancen mithilfe ihrer Erfahrungen, ihre Werte und Ideale glaubwürdig zu vermitteln, bleiben sie aber im alten Muster verhaftet, werde die großen deutschen Volksparteien bald der Geschichte angehören.
Das Cluetrain Manifest von 1999 finden sie hier: http://www.cluetrain.com/auf-deutsch.html